Trotz Personalmangel keine Zeit für neue Mitarbeitende?
Aktuelle Trendence-Zahlen zeigen: Aus Sicht der Beschäftigten gibt es neben der Bewältigung der steigenden Preise für Unternehmen vor allem zwei große Herausforderungen im Jahr 2023: Mitarbeitende finden und Mitarbeitende binden. Beide Themen haben einen direkten Bezug zum Onboarding-Prozess – also der Zeit, in der neue Kollegen in ihrem neuen Unternehmen beginnen. Vorab steht ein oft sehr kostspieliger Recruiting-Prozess. Dieser erlaubt es den Unternehmen eigentlich nicht, die neu gewonnen Teammitglieder gleich wieder zu verlieren. Doch genau diese Gefahr ist gerade in der Anfangsphase am größten.
Das zeigt eine aktuelle HR-Studie zu dem Thema. Nils Wagener, Geschäftsführer der KÖNIGSTEINER Gruppe und Initiator der Studie, erläutert im Gespräch die Ergebnisse und leitet Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber ab.
Herr Wagener, Sie haben im Rahmen Ihrer aktuellen Onboarding-Studie analysiert, wie Arbeitgeber in Zeiten des akuten Personalmangels in zahlreichen Berufsfeldern, neue Mitarbeitende aufnehmen. Wie ist die derzeitige Situation diesbezüglich?
Nils Wagener: Auch wenn es im Februar 2023 nicht mehr zeitgemäß scheint, die endlich ausklingende Pandemie ins Feld zu führen, so steht dennoch fest: Viele Arbeitgeber mussten in den letzten drei Jahren unter erschwerten Bedingungen „onboarden“. In Zeiten, in denen viele Beschäftigte im Homeoffice arbeiteten oder eingeschränkt tätig waren, fiel die Aufnahme neuer Mitarbeiter schwerer als in den Jahren zuvor.
Trotzdem erhielten die Arbeitgeber hierzulande gemäß unserer Studie gute bis befriedigende Schulnoten für diese Zeit. Im Durchschnitt vergaben die Teilnehmenden für den Onboarding-Prozess bei ihrem aktuellen Arbeitgeber eine 3,1. Das ist nicht schlecht, aber eben auch kein „Hurra“. Zudem: Immerhin 57 % der Teilnehmenden sagen, dass sie mindestens einmal ein Onboarding erlebt haben, dass aus ihrer Sicht verpatzt war. Das ist dann schon besorgniserregend, wenn man sich gleichzeitig überlegt, welche Mittel Unternehmen aufwenden, um neue Mitarbeitende überhaupt erst einmal zu finden.
Warum hat das Thema Onboarding aus Ihrer Sicht überhaupt eine so große Bedeutung?
Nils Wagener: Viele HR-Experten sprechen im Recruiting-Prozess vom „Perfect Match“, also davon, dass Kandidaten und Arbeitgeber zusammenfinden, die genau zueinander passen. Und in der Tat ist es über einen gut aufgesetzten Prozess möglich, dies bis zu einem gewissen Grad zu bewerkstelligen. Ganz sicher können sowohl Unternehmen als auch der neue Mitarbeitende aber erst sein, wenn sie sich im Arbeitsalltag begegnen und die Aufgaben, die sie vorher besprochen haben in dem Arbeitsumfeld, das sie vorher eben nur theoretisch durchgegangen sind, gemeinsam angehen. Hier ist die Probezeit die entscheidende Nagelprobe. Grundlegend für eine gelingende Startphase ist der Onboarding-Prozess, also die ersten gut 2-3 Wochen im neuen Job. Von diesen hängt letztlich ab, ob neue Mitarbeiter produktiv und voller Elan starten oder eben, ob sie schon wieder an einen Abschied denken.
Was machen die Unternehmen konkret falsch?
Nils Wagener: Die Fehler, die viele Arbeitgeber machen, liegen weniger im definierten Prozess als vielmehr in der fehlenden Mitarbeit der Führungskräfte und neuen Kollegen. Unsere Studie zeigt, dass das Onboarding oft nur eine untergeordnete Priorität bei Vorgesetzten und Kollegen besitzt. Beispiel: Mehr als ein Viertel (27 %) der Studienteilnehmer, die bereits mindestens einmal negative Onboarding-Erfahrungen gesammelt haben, hatten in den ersten Tagen das feste Gefühl, dass sich andere Teammitglieder nicht um sie kümmern konnten, weil sie schlicht keine Zeit für neue Kollegen hatten. Weitere 45 % stimmten dem tendenziell zu. Weiterer alarmierender Aspekt: Immerhin 28 % geben an, dass sich ihr Vorgesetzter oder ihre Vorgesetzte auf jeden Fall zu wenig Zeit für sie nahm – zusätzliche 47 % schließen sich dieser Einschätzung tendenziell an.
Welche Gefahren gehen mit einem verfehlten Onboarding-Prozess einher?
Nils Wagener: Der viel diskutierte Fachkräftemangel hat sich längst zu einem allgemeinen Arbeitskräftemangel entwickelt. Arbeitgeber sehen sich also einem Kandidatenmarkt gegenüber, in dem Bewerbende und Beschäftigte die Regeln bestimmen, nicht umgekehrt. Das bedeutet: Beschäftigte oder Kandidaten legen heute deutlich mehr Arbeitgeberleistungen auf die Goldwaage als noch vor ein paar Jahren. In diesem Kontext schauen sie sich auch ganz genau an, wie sie bei einem neuen Arbeitgeber aufgenommen werden. Läuft das völlig konträr zu ihren Vorstellungen, machen sie keine Faust in der Tasche, sondern erwägen einen Wechsel, einfach weil sie begehrt sind.
Unsere Studie spricht da eine klare Sprache. Satte 43 % der Jobstarter wurden in den ersten drei Monaten bei einem neuen Arbeitgeber von anderen Unternehmen zwecks Jobwechsel kontaktiert. 12 % wechselten daraufhin tatsächlich erneut den Arbeitgeber. Weitere 5 % gingen auf die Offerte ein, wechselten aber letztlich doch nicht. 26 % ignorierten die Kontaktaufnahme. Kurz: Der arbeitgeberseitige Wettbewerb schläft nicht. Er spekuliert teilweise sogar auf verpatzte Onboarding-Prozesse, weil neue Mitarbeitende in der Phase noch keine so feste Bindung zum Arbeitgeber entwickelt haben.
Was sollten Arbeitgeber tun, um der Gefahr zu entgehen, die mühsam rekrutierten neuen Kollegen gleich wieder zu verlieren?
Nils Wagener: Zunächst muss das Onboarding einen höheren Stellenwert bei Mitarbeitern und vor allem bei Führungskräften erhalten. Unternehmen sollten ihnen den Freiraum geben, neue Kollegen optimal einzuarbeiten. Dafür muss es geboten sein, andere Dinge liegenzulassen. Um das zu gewährleisten, sollten Unternehmen klare Verantwortlichkeiten für den Onboarding-Prozess definieren. Das Gelingen des Prozesses gehört in die Zielvereinbarungen von Führungskräften. Sie sollten an der Qualität ihrer Einarbeitung gemessen werden – nicht mehr, nicht weniger. Dritter Punkt: Viele Arbeitgeber verpassen es, vom ersten Tag an mit den neuen Mitarbeitenden im Gespräch zu bleiben. So merken viele HR-Abteilungen erst gar nicht, dass etwas in die falsche Richtung läuft und können auch nicht gegensteuern. Gerade in Personalabteilungen darf mit dem gelungenen Recruiting-Erfolg die Arbeit noch nicht erledigt sein.
Hintergrund
Für die Studie „Onboarding 2022“ befragte die KÖNIGSTEINER Gruppe bundesweit 1.016 berufstätige Arbeitnehmer in allen Altersstufen, die sich in den letzten drei Jahren in mindestens einem Bewerbungsprozess befunden haben. Dabei wurden je zur Hälfte Akademiker und Nichtakademiker befragt. Der Befragungszeitraum lag im August 2022. Alle Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Befragung in Beschäftigung. Interessierten Unternehmen steht sie zum kostenfreien Download zur Verfügung.